„Nella vita, se uno vuol capire, capire sul serio, come stanno le cose di questo mondo, deve morire almeno una volta”
„Wer im Leben verstehen will, wirklich verstehen will, wie diese Welt funktioniert, muss mindestens einmal sterben”
– aus Giorgio Bassanis „Il giardino dei Finzi-Contini”
Al cuore non si comandi!
Giacomo Visconti wartete. Die kalte Lagune floss langsam zu einem unbestimmten Ziel während er nach dem Vaporetto Ausschau hielt. Er liebte es zu warten. Wenn man auf etwas wartet, besitzt man eine ganz besondere Art der Freiheit. Viele Menschen warten nicht besonders gerne, doch Giacomo Visconti genoss diese Momente während denen er nichts Anderes tun musste als warten. Es waren Augenblicke wie dieser, während denen sich der noch junge Venezianer der Schönheit seiner Stadt bewusst wurde. Venedig hatte nichts von dem leicht bedrohlichen Charakter welcher viele andere Städte begleitete. Die Serenissima schwebte über dem Wasser wie ein Asket in tiefster Meditation und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Über der Stadt lag eine schwer zu erfassende Ruhe, die sämtliche Bewohner zu erfassen schien. In Venedig rasten keine Metallkisten mit stinkenden Verbrennungsmotoren über harte Straßen. Dies war die Stadt der Gondeln und Vaporettos, die sich geschmeidig über die Wasserstraßen bewegten. Es war auch die Stadt der schweigsam lächelnden Venezianer, welche tagtäglich wie Ameisen über die tausend Brücken und Gassen ihrer geheimnisvollen Stadt huschten. Aus all diesen Gründen war das Warten auf den gewünschten Wasserbus eine der vielen willkommenen Denkpausen, welche Venedig einem bot. In Ruhe konnte man über die wirklich wichtigen Dinge im Leben nachdenken, welche im Alltag nur all zu gerne untergehen. Für Giacomo Visconti hingegen gab es sowieso nur einen Gedanken der seinen Geist beherrschte. Dieser Gedanke hörte auf den Namen Sara Menken. Sie wohnte im Haus gegenüber und war Giacomos liebste Person in ganz Venedig. Sie kannten sich bereits länger, ein langer und vor allem beschwipster Abend während des alljährlichen Carnevale hatte sie einander bekannt gemacht, und seitdem trafen sie sich regelmäßig. Ihre Gespräche, oft und gerne am äußeren Rand der San Marco geführt, waren sehr persönlich und doch auch mit einer Leichtigkeit geführt als würde man sich über das Wetter unterhalten. Nichts war gezwungen, nichts war gestellt, Saras Gegenwart erst schien Giacomos Leben seinen Wert zu geben. Doch selbst wenn sie nicht bei ihm war, konnte Giacomo an nichts anderes denken. Ihr galt sein erster Gedanke morgens beim Aufstehen genau so wie sein letzter Gedanke vor der Nachtruhe. Waren sie verabredet, so war ihr Treffen Quelle von kindlich-aufgespielter Vorfreude davor und melancholisch-sehnsuchtsvoller Erinnerung danach. Giacomo fühlte sich ihr so verbunden, dass er selbst ihre Gefühle bis ins absolute Extrem teilte. So kam es denn nicht selten vor, dass wenn Sara traurig war, Giacomo in eine tiefe Depression verfiel, selbst wenn es ihm selbst nicht besser gehen konnte. Genau so war aber auch ein einziges Lachen Saras genug um Giacomo von Grund auf glücklich zu machen. Die Beziehung zwischen Giacomo Visconti und Sara Menken suchte zweifellos ihresgleichen, doch ein Paar waren die Beiden nicht. Ein Umstand, der den verliebten Italiener jeden Tag heimsuchte, doch eine Änderung in naher Zukunft schien unmöglich. Eigentlich war es nur ein Detail, doch dieser einzige Mangel war genug um Giacomo in den Wahnsinn zu treiben. Wahre Einsamkeit kennt nur, wer unerfüllt geliebt hat. Die Liebe ist in dieser Hinsicht eine sehr ambivalente Kraft, gleichzeitig der Ursprung des höchsten und reinsten Glücks und doch auch sadistische Peinigerin der unglücklich Verliebten. Giacomi Visconti war ein Gefühlsmensch und als solcher ihren willkürlichen Launen noch verwundbarer augesetzt. Diese Stagnation war für ihn umso schlimmer, weil sie in heftigstem Widerstand zur Ungezwungenheit seiner Beziehung zu Sara stand. Der innere Sog aus primitiver Wut und Verzweiflung verzehrte täglich seine Kräfte und Giacomo Visconti fürchtete den Tag, den Moment an dem er schlussendlich nachgeben würde. Er dachte oft daran, dass vor einigen Jahren alles noch um einiges einfacher gewesen wäre, doch seit sich der Duce vom deutschen Hampelmann die Rassengesetze hat aufschwatzen lassen, waren Giacomos Hoffnungen endgültig ins Reich der Träume verbannt. Man stelle sich nur einmal vor, der Sohn des fanatischsten Faschisten Venedigs zusammen mit einer Jüdin…
Der eintreffende Vaporetto riss Giacomo aus seinen Gedanken. Einmal an Bord, stellte er mit Bedauern fest, dass draußen leider kein Platz mehr war. Giacomo liebte es, den Fahrtwind im Gesicht zu spüren während der Vaporetto wie ein eiserner Moses das Wasser der pastellgrünen Lagune teilte. Wie oft hatte er schon mit Sara an Deck eines Vaporetto gestanden und mit aufmerksamen Ohren ihren Geschichten gelauscht. Es war eine ihrer gemeinsamen Angewohnheiten, in einen beliebigen Vaporetto zu steigen unwissend wohin er sie bringen würde. Giacomo genoss diese Ausflüge, sie hatten etwas sehr Verbindendes, war es doch im Grunde gleich wo sie ankamen, was zählte war, dass sie den Weg zusammen antraten. Inzwischen wurde Giacomo von einem älteren Herrn relativ forsch zum weitergehen gedrängt und so trat er resigniert aber in voller Akzeptanz der Umstände den Gang ins Innere an. Es war schließlich nicht der letzte Vaporetto den er nehmen würde. Ein einziger Platz war noch frei, neben einer etwas distanziert wirkenden älteren Dame, welche sich scheinbar alle Mühe gab, ihn zu ignorieren. Kaum hatte der Vaporetto Fahrt aufgenommen fiel Giacomo etwas ins Auge. Es war ein Zettel, geklebt auf die Rückseite des Sitzes vor ihm. Auf dem Zettel stand in etwas unleserlicher Schrift ein einzelner Satz:
Al cuore non si comandi!
Dem Herzen befiehlt man nicht. Warum der Autor dieses kurzen Ausrufes das Bedürfnis verspürte, seine Aussage gerade auf der Rückseite dieses einen Sitzes in einem beliebigen Vaporetto in Venedig anzubringen, war Giacomo nicht wirklich klar. Zwar war man vom Vandalismus im öffentlichen Transport Schlimmeres gewohnt, doch etwas rebellisch wirkte dieses Notizblatt nichts desto trotz. Normalerweise beachtete Giacomo diese Kritzeleien überhaupt nicht, doch diese Aussage wirkte wie eine magische Beschwörungsformel auf ihn. Sie hatte etwas Verbotenes an sich und Giacomo ertappte sich selber dabei wie er sich misstrauisch umsah, besorgt, dass ihn jemand beim Lesen beobachten könnte. Er war nicht gerade ein großer Leser, doch glaubte er nun zu wissen, was Sara meinte wenn sie ihm von der Wirkung der Lyrik sprach. Diese Worte, so simpel sie auch waren, brannten sich ihm in seine Augen, drangen direkt in sein Herz ein. Nichts schien ihm je klarer ausgedrückt, noch nie fühlte er sich von geschriebenen Worten so persönlich angesprochen. Hier saß er nun, in diesem x-beliebigen Vaporetto auf einem kalten Sitz und las auf einem aufklebten Notizzettel die grundsätzlichste aller Wahrheiten. Giacomo war sich von einem Moment auf den anderen bewusst, dass er die Lösung seines Leidens eigentlich die ganze Zeit vor Augen hatte. Warum sollte er seinem Herzen noch länger das verweigern, was es schon so lange von ihm fordert? Wer hat schon das Recht dem Herzen zu befehlen? Weder der Duce, noch sein Vater und schon gar nicht er selbst. Doch was würden die Anderen von ihm denken? Schlimmer noch, was würden sie von Sara denken? Wie er seinen Vater kennt, würde dieser es fertig bringen sie für seine Entscheidung verantwortlich zu machen, selbst wenn dies vollkommen absurd war. Sicher würde ihm irgendeine verdrehte Argumentation einfallen, welche die „dreckige Jüdin” für seinen Verrat verantwortlich machen würde. Giacomo wiederholte die heilige Botschaft noch einige Male in seinem Kopf. Er war nun fest entschlossen, noch heute sollte er es tun. Viel zu lange schon hatte er es hinausgezögert, längst hätte er erkennen müssen, dass dies die einzige Möglichkeit war. Weder der Staat noch die Gesellschaft sollten ihm weiterhin sein Leben diktieren. Er würde sich rebellieren, ein Zeichen setzen. Auf seine Art und Weise, im Namen seines Herzens und seines Gefühls. Die Anderen würden schon verstehen. Selbst wenn sie es nicht täten, er wusste jetzt wenigstens etwas was sie nicht wussten:
Al cuore non si comandi!
Der Vaporetto hielt an seiner Endstation. Mit katatonisch entschlossenem Blick schritt der Liebende von Bord. Ein Gefühl breitete sich in seiner Brust aus welches eigentlich nur Glück sein konnte. Giacomo Visconti stand, einer römischen Plastik gleich, am Rand des großen Kanals. Seine olivgrünen Augen streiften die Kulissen der geliebten Stadt. Venedig, du wunderschöne Sklavin deines eigenen Verfalls! Niemanden lässt du unberührt, in deinem geheimnisvollen Schoß führst du jeden zur Selbsterkenntnis. Mit einem zufriedenen Lächeln nickte er die Szene ab. In der Tat, heute war ein schöner Tag um sich das Leben zu nehmen.
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Copyright 2016 Vito Volpe