Über dem leeren Flur lag eine erdrückende Stille. Die aschgrauen Mauern türmten sich wie die Wände einer Kathedrale zu Welkenfelds Seiten auf. Sein Arbeitszimmer lag im 2. Stock. Jeder seiner Schritte hallte bedrohlich wieder, wie Glockenschläge die den Geweihten begleiteten. Er fühlte sich unwohl. Diese Muse hatte etwas in ihm in Gang gesetzt, das er nicht unter Kontrolle hatte. Die Liebe umarmte ihn diesmal nicht mit aphroditischer Zärtlichkeit, sondern erdrückte seinen verstaubten Leib in den garstigen Armen einer warzigen Gorgone. Das Mädchen ließ ihn nicht mehr los, es hatte sich wie eine Spinne in seinem Geiste festgesetzt und umschloss ihn in einem undurchdringlichen Netz. Der Gehetzte bekam schlecht Luft. Eine unsichtbare Kraft schien ihm die Kehle zuzuschnüren, während ein Dämon ihm in seinem Inneren seinen Magen herauszureißen drohte. Noch nie hatte eine Muse ihm solch körperliche Schmerzen bereitet. Sein eigenes Heim, sein Rückzugsort, schien ihm auf einmal feindlich. Er fühlte sich verloren und verfolgt während er die steinerne Treppe hinaufeilte. Längst war es draußen dunkel geworden und kein Lichtstrahl fiel mehr durch die schmutzigen Fenster. Das künstliche Licht der Kronleuchter hatte etwas Falsches an sich und blendete den Verirrten. Der Schweiß schoss ihm aus den Poren, doch ihm war als blutete er aus. Sein Arbeitszimmer lag am Ende des Ganges. Der Flur glich dem Weg zum Schafott: an den Wänden hingen die Porträts großer Schriftsteller, Heinrich Welkenfelds Vorbilder, doch in ihrer Masse wirkten sie wie ein wütender Mob. Ihre Blicke waren spöttisch und in ihren aufgesetzten Fratzen lag etwas Diabolisches. Sie lachten über den alten Wicht, der sich wie ein angeschossenes Wild durch einen undurchdringlichen Wald schleppte. Der Verzweifelte keuchte und flehte sie an zu schweigen. Doch das Gekreische wurde lauter und immer unverständlicher bis es nur noch infernalischer Lärm war, der Heinrich Welkenfeld fast taub werden ließ. Nach einer endlos wirkenden Jagd ergriff seine bleiche Hand endlich das kalte Metall des Rettung versprechenden Griffs und der Zerrüttete betrat sein Arbeitszimmer.
Ein Moment der Stille. Vor Heinrich Welkenfeld lag wie ein Altar sein Schreibtisch. Der Schreibtisch an dem ihm seine größten Meisterwerke geglückt waren. Der Schreibtisch an dem er tagtäglich seine Pflicht erfüllt hatte. Sein gesamtes Werk, welches an diesem von Alter und Holzwürmern zerfressenen Tisch entstanden war, war eine Stütze gegen ein gescheitertes Leben. Der Dichter war immer ein Fremder in dieser Welt gewesen, ob als ungeschickter Bauernjunge oder als stummer Liebhaber von Frauen die ihm nur in seinen eigenen Gedichten wirklich nah waren. Heinrich Welkenfeld war kein gebrochener Mann, denn er war nie wirklich ganz gewesen. Formlos und zusammengehalten nur durch die dunkle Kraft seiner Kunst, wanderte er wie ein Geist durch diese Welt, die nicht mehr an Geister glaubt. Ein ihm wohlgesinnter Kritiker bezeichnete sein Werk einmal als „die unzähmbare Freiheit gedrängt in die kälteste vorstellbare Form“. Die Kunst war die einzige Kraft die ihn am Leben hielt und nach vorne trieb und so war Heinrich Welkenfeld nun mehr als entschlossen, sich auch von dieser, zugegebenermaßen höchst seltsamen, Erfahrung nicht unterkriegen zu lassen. Während er langsam zu seinem Elysium stieg, leuchtete ihm bereits weiß das ihm heute Morgen noch so verhasste leere Papier entgegen. Doch ein leeres Papier macht einem inspirierten Schriftsteller keine Angst. Der Wehrhafte greift wie mit letzter Kraft nach seinem hölzernen Stuhl. Es war dunkel im Arbeitszimmer, seine alten Augen brauchten Licht. Er zündete eine rostige Petroleumlampe an, setzte sie auf den Tisch und nahm Platz im leeren Thron. Ein letztes Lächeln ritzte sich in sein faltiges Gesicht, er griff nach seiner bereits halb zerfallenen Feder, tunkte sie in die dickflüssige Tinte, welche immer bereit stand, und schwebte dann mit zittriger Hand über die weiße Heide.
Heinrich Welkenfeld schloss die Augen. Er dachte an seine Muse. Dort saß sie wieder, in diesem verkommenen Bistro, zart und rein wie er sie in Erinnerung hatte. Komm, zeige her dein Gesicht! Der Blinde brauchte die Augen, die giftgrünen Augen, um zu schreiben. Langsam drehte das geistige Mädchen seinen Kopf zu seinem Beobachter hin. Dort war es, sein Gesicht, aber etwas stimmte nicht. Es war genau so, wie es der Greis in Erinnerung hatte, aber doch anders. In seinem Lächeln lag etwas heimtückisches, fast teuflisches, und seine Augen blitzten wie die eines hungrigen Wolfes. Doch dann wurde es noch deutlich schlimmer, es öffnete seinen Mund und schallendes, gehässiges Lachen kroch aus dem höllischen Schlund. Nie hatte Heinrich Welkenfeld in seinem Leben grausigeres erblickt, nie hatte er sich derart bedroht gefühlt. Längst war das Bistro verschwunden und das einstmals schöne Mädchen nur noch die garstige Vision eines gebrochenen Geistes. Aus den Schatten seines Inneren traten plötzlich weitere Gestalten hinzu, eine hässlicher als die andere. Heinrich Welkenfeld schrie entsetzt als er sie erkannte: sämtliche Musen seiner Vergangenheit kamen ihn zu holen, sich zu rächen für den selbstsüchtigen Missbrauch ihrer Person, im Dienste des Götzen Kunst. Alle lachten sie ihn aus, griffen mit ihren dürren Armen nach seinem immer schwächer werdenden Körper und um den Hexensabbat herum brannte ein Feuer dessen Flammen das Lebenswerk des überheblichen Künstlers verschlangen. Durch die Abscheulichkeit seiner Vision hindurch spürte Heinrich Welkenfeld das dunkle Ross, welches er glaubte gezähmt zu haben. Auch es lachte ihn aus und schlug mit rauen Hufen gegen den Kerker, in welchen der verbitterte Schriftsteller es gezwängt hatte. Er hatte genug, die Feder hatte er schon längst aus der Hand gegeben, er lag nur noch auf seinem Tisch, teils wimmernd, teils schreiend, auf jeden Fall innerlich verrissen. Der Gepeinigte blickte noch ein letztes Mal auf das weiße Blatt Papier und eine primitive Wut brach aus seinen tiefsten Abgründen heraus. In einem Anfall hemmungsloser Raserei warf er die einstige Wiege seiner Kunst um, ohne an die Petroleumlampe zu denken, welche die ganze Zeit an seiner Seite stand. Als letzte befreit, tat nun auch sie ihr vorbestimmtes Werk und setzte das morsche Zimmer in Brand. Längst verloren, stürzte sich Heinrich Welkenfeld zur einzigen Tür des Raumes. Geschwächt und geistig umnachtet stolperte er jedoch über den staubigen Teppich, das einzige noch verbliebene Stück aus dem alten Elternhaus. Sein schweres Haupt schlug hart auf dem Boden auf und wie bereits vor ihm seine Kunst, schwand nun der gescheiterte Künstler aus der feindlichen Welt.
Es war ein kalter Abend. Die ersten Flocken des Winters rieselten leise auf die verwelkten Felder. Irgendwo schreibt gerade ein inspirierter Dichter eine wunderschöne Elegie.
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Dies ist das Ende meiner vierteiligen Erzählung „Welkenfeld – Eine Geschichte des Versagens”.
Teil 3:
https://just-thoughts.net/2015/12/13/welkenfeld-eine-geschichte-des-versagens-teil-3/