Dichter sein

Was ist die Funktion des Dichters? Über keine andere Frage habe ich während der letzten 3 Jahre wohl so häufig meditiert wie über diese. Nach sorgfältigen Lektüren der größten Werke aus 4 verschiedenen Sprachen und höchst bereichernden Diskussionen mit anderen Literaturfreunden und Dichtern glaube ich eine erste Bilanz ziehen zu können. Die Wahrheit ist ein heißes Eisen und wer sich viel und gerne mit Literatur beschäftigt weiß, dass sie der Liebe an Ambivalenz in nichts nachsteht. Wer liest oder schreibt, sucht die Wahrheit doch ist sich stets bewusst, dass er sie niemals finden wird. Im Gegensatz zu den exakten Wissenschaften will die Literatur keine messbaren, präzisen Resultate präsentieren. Sie entsteht durch das Gefühl, dieses geheimnisvolle „Etwas“ welches sich der rationalen Betrachtung auf ewig entziehen wird. Literatur und Wissenschaft sind keine Gegensätze die sich abstoßen, sie ergänzen sich und wirken komplementär. Während die Wissenschaft es sich zur Aufgabe gemacht hat, Licht in das Dunkel zu bringen, erkundet die Literatur das Wesen der Dunkelheit an sich. Der Dichter ist dieser Forscher, doch viel eher noch würde ich ihn als einen Beobachter bezeichnen. Der Vorwurf vom „Schriftsteller im Elfenbeinturm“ ist nicht neu und doch auch heute noch aktuell. Der Dichter aber muss sich distanzieren, er ist von seiner Natur aus marginalisiert und dies ist zu seinem Vorteil. Vom Rand aus bietet sich ihm ein breiter Blick über die Gesellschaft seiner Zeit. Dabei ist er nicht einmal unbedingt physisch außerhalb derselben, oft nimmt er aktiv an ihr Teil. Etgar Keret stellt in seinem Memoir „Die sieben guten Jahre“ klar:

„Der Schriftsteller ist weder ein Heiliger, noch ein Zadik, noch ein Prophet, der am Tor steht, er ist bloß ein Sünder mehr, der eine etwas schärfere Auffassungsgabe hat und eine etwas präzisere Sprache benützt, um die unbegreifliche Wirklichkeit unserer Welt zu beschreiben.”

Gerade dadurch, dass er „bloß ein Sünder mehr” ist, gelingt es ihm die Mechanismen der Welt in der er sich befindet zu erkennen. Der Dichter ist immer kritisch, immer skeptisch, er hinterfragt alles und jeden und am meisten sich selbst. Der poetische Geist ist Gabe und Fluch zugleich, denn Ruhe oder gar Zufriedenheit wird ein solcher Mensch nicht finden. Der wahre Dichter schreibt um sein Leben. Thomas Mann beschrieb es bereits aufs Vortrefflichste in seiner Novelle „Der Tod in Venedig”, in welcher er die Kunst als „ein erhöhtes Leben” bezeichnet. „Sie beglückt tiefer, sie verzehrt rascher”, für den Künstler gibt es nur das Absolute. Er ist der Spielball seiner Gefühle und es ist seine Aufgabe zu lernen mit ihnen umzugehen. Im Französischen gibt es den Begriff der „béatitude”, der Zustand welcher sich aus Ataraxie und Aponie ergibt, also vollster geistiger und körperlicher Zufriedenheit. Im Deutschen würde man den Begriff am ehesten mit „Glückseligkeit” übersetzen, doch trifft es nicht genau den Sinn seines Französischen Pendants. Auf jeden Fall ist dieser Zustand für den Dichter nicht erreichbar. Er ist von Natur aus ein innerlich zerrissener Charakter, gefangen im ewigen Gegensatz seiner „zwei Seelen”, zwischen „Spleen” und „Ideal”, zwischen Apoll und Dionysos. All dies klingt nicht gerade heiter und könnte zu dem Trugschluss verleiten, der Dichter sei zu einer jämmerlichen Existenz voller Leiden verurteilt. Doch weit gefehlt. Es ist die Literatur die dem Dichter diese komplexe Persönlichkeit auferlegt, es ist die Literatur die ihn an den Rand drängt, doch es ist auch die Literatur die ihn von seiner eigenen Last befreit. Der französische Schriftsteller Marcel Proust bringt es in seinem Jahrhundertwerk „À la recherche du temps perdu” auf den Punkt:

„La vraie vie, […] c’est la littérature”

(übersetzt: „Das wahre Leben, [..] ist die Literatur”)

Denn auch wenn der künstlerische Geist auf ewig in unserer materiellen Realität zu ziellosem Streben nach mehr verurteilt ist, so findet er seine Erfüllung in der Literatur. Der Fehler von Gustave Flauberts Heldin Emma Bovary war, dass sie versucht hat, ihre romantischen Träume in die Realität zu übertragen. Doch was in die Realität übertragen wird, ist ohne Ausnahme zur Vergänglichkeit verurteilt. Die Gefahr der Romantik lag und liegt immer noch in der Schaffung einer Welt der Illusionen die scheinbar der Wirklichkeit entspricht, doch tatsächlich nur in der künstlerischen Phantasie existiert. Der große Fehler Emma Bovarys war so der Versuch, die idealisierte Welt des Künstlers in der Wirklichkeit zu suchen. Der Dichter hingegen agiert umgekehrt: er beobachtet seine Umwelt, destilliert aus ihr die Essenz hinter dem Schein, verdichtet sie in der künstlerischen Form der Lyrik und erhebt sie so auf eine intellektuelle Ebene. Die Literatur übernimmt dabei die Rolle eines Prismas. Kein Spiegel, denn niemals ist sie eine bloße Abbildung oder eine schwache Reflexion der Realität, vielmehr bricht sie den Schein der Welt und offenbart ihre einzelnen Bestandteile. Der Dichter ist ein Beobachter seines Umfelds und seiner selbst, sein Werkzeug ist das Gefühl und seine Werkbank die Literatur. Dichter sein ist kein Beruf, sondern eine Berufung. Man arbeitet sein Leben lang und findet in der Literatur Start, Mittel und Ziel. Sie bietet einem die höchsten Freuden und die tiefste Traurigkeit, doch kann man sich immer Gewiss sein, dass sie einem zugleich die breiteste menschenmögliche Erfahrung der Welt bietet.

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