Lust auf ein Glas Lyrik?

Man hat es definitiv nicht immer einfach als Lyriker. Oft wird man belächelt und selbst von Schriftstellerkollegen, zumeist Romanautoren, nicht ganz ernst genommen. Zu wenig Arbeit stecke dahinter, zu konfus und verschlossen sei das Resultat. Wir sind es gewohnt und spätestens seit Paul Verlaine den Begriff des poète maudit (verfemter Dichter) geprägt hat, schreiben die Lyriker in aller Stille ihre Verse am Rande der literarischen Welt. Manchmal geschehen jedoch noch Wunder. Diese Woche wurde bekannt, dass der Hamburger Lyriker Jan Wagner den Georg-Büchner-Preis erhält, die höchste deutsche Literaturauszeichnung.

Artikel über Jan Wagner selbst und warum der Preis absolut gerechtfertigt ist, kann man überall finden (hier beispielsweise der sehr gelungene Artikel von Michael Braun in der ZEIT). Ich will mich deshalb in meinem Kommentar auf die Gattung konzentrieren, die dieser Schriftsteller vertritt.

Warum überhaupt Lyrik? Das ist definitiv eine Frage der letzten Jahrhunderte, weil vorher niemand auch nur auf die Idee gekommen wäre, sie infrage zu stellen. Die Lyrik war über Jahrhunderte hinweg stets die dominierende Gattung der Literatur, der Roman während seiner Entstehungszeit verpönt als “niedere Kunst”. Mit dem Durchbruch der Prosa im 19. Jahrhundert änderte sich dies allerdings. Der Roman etablierte sich als die neue “Königsgattung” der Literatur und drängte die Lyrik immer mehr in die Rolle des Orchideenfachs welches wir heute kennen. Selbst das Theater rückte mit Brechts epischer Dramatik weitaus deutlicher in Richtung prosaischer Inszenierung. Die reinen Lyriker sahen sich immer mehr einer unkontrollierbaren Mutation vom einst verehrten Dichterfürsten zum schrulligen Poeten ausgesetzt. Bei den großen Literaturpreisen rückten sie immer deutlicher in den Schatten der Romanautoren, die mit ihren großen Prosawerken alles zu überstrahlen schienen. Doch ganz verdängen ließ sie sich nie, die Lyrik, wenn es auch vielleicht die kleine Gruppe von Liebhabern ist, die sie noch am Leben hält. Denn die Lyrik hat außer ihrem Platz im Rampenlicht, nichts von ihrem großen Wert für die Literatur und die Kunst ganz allgemein, eingebüßt.

Innerhalb der Literatur ist die Lyrik sicherlich die künstlerischste der drei großen Gattungen. Nicht umsonst liegt im Wort Dichter das Verb dichten, der Lyriker als eine Person, die hochkomplexe Themen verdichtet. Ich persönlich vergleiche die Literatur im Allgemeinen und die Lyrik im Besonderen gerne mit dem Destillierverfahren während der Whiskyherstellung. Lyrik ist destillierte Realität, von Verunreinigungen befreit und auf ihren verletzlichen Kern zurückgeführt. Genau wie Whisky lässt sich zwar für jeden Text einen allgemeinen Charakter des Destillats festlegen, dennoch erlebt jeder eine eigene Erfahrung, beeinflusst durch die subjektiven Erfahrungen und Erinnerungen mit denen wir uns auf diese hochkonzentrierte Essenz einlassen. Bei richtigem, überlegtem Genießen kann sie bewusstseinserweiternd wirken, liebloser Konsum kann jedoch Kopfschmerzen und Unwohlsein auslösen. Der französische Dichter Yves Bonnefoy sprach von der Poesie als fondatrice d’être (zu dt. Schöpferin des Seins), sie macht aus den irrealen Zeichen und Formen die uns umgeben und die wir als Realität bezeichnen, erst Sinn und führt zu dem, nach Marcel Proust, einzig wahren Leben, wenn man natürlich gerade als Lyriker stets sehr vorsichtig mit dem Begriff der Wahrheit umgeht.

Die Lyrik ist nicht der kleine Bruder der Prosa, sie ist auch keineswegs der Außenseiter in der literarischen Welt. Wer so denkt, hat sich noch nicht wirklich mit ihr beschäftigt und sich ganz auf sie eingelassen. Die Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Jan Wagner bietet meiner Meinung nach eine gute Gelegenheit, sich durch das Werk dieses äußerst talentierten Lyrikers einer Gattung anzunähern, die unsere Aufmerksamkeit verdient.

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