Eine Anklage aus der Vergangenheit

Viele Verteidiger der EU, zu denen ich mich ja auch zähle, argumentieren gerne mit der Funktion der Union als Friedensprojekt. Dank ihr, so heißt es, hatten wir seit dem Zweiten Weltkrieg keinen Krieg mehr in Europa. Dies stimmt jedoch nur zum Teil. Wenn man unter Europa jenes Bündnis der Gründungsstaaten Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg, Holland und Italien versteht, dann ist dem nichts entgegenzusetzen. Versteht man unter Europa jedoch den Kontinent an sich, in seiner ganzen Ausdehnung nach Ost und West, so muss man aufs Heftigste widersprechen. Besonders der Osten war und ist noch immer von Konflikten überzogen und das Buch welches ich euch heute vorstellen möchte, behandelt nichts anderes als den schlimmsten Genozid in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg: das Massaker von Srebrenica im Juli 1995.

Das Buch trägt den Titel „Srebrenica – Notizen aus der Hölle”, der Autor ist Emir Suljagić, einer der wenigen die das Grauen von Srebrenica mit eigenen Augen erlebt haben und uns heute noch davon berichten können. Doch Suljagić beschränkt sich nicht auf diesen fatalen Juli 1995, er beschreibt auch die Jahre davor, das Leben in der Enklave, der späteren sogenannten „Sicherheitszone” Srebrenica. Von anderen Augenzeugenberichten, aus dem Zweiten Weltkrieg etwa, kennt man bereits diesen unmittelbaren Ton, welcher ohne großen Pathos die ganzen Abgründe und Grausamkeiten so klar darstellt wie ihre Autoren sie erlebt haben. Doch Emir Suljagić beweist in diesem Buch nichts desto trotz fast schon poetisches Talent, so beispielsweise wenn er seinen Traum schildert der ihn während des Falls von Srebrenica heimgesucht hat:

„Ich weiß nicht, wie ich in dieser Nacht eingeschlafen bin, aber ich kann mich sehr gut erinnern, dass ich von Schlangen geträumt habe; von großen Schlangen, die über die ruhige Oberfläche eines Sumpfes glitten, um die Blätter der Teichrosen herum und sich mir näherten; ich flüchtete, rannte durch das Wasser, meine Beine sanken in den Sumpf, ich schrie, aber aus meinem Hals kam kein Laut. […]”

Noch nicht einmal 20 war Emir Suljagić als er die tiefsten Abgründe der Menschheit miterleben musste. In knappen und doch deutlichen Worten beschreibt er die Agonie der gnadenlos sporadischen Bombardements der Serben und aber auch ihren eigentlich größten Feind: den Hunger. „Im Juli 1992 war der Hunger bereits zum zentralen Faktor im Leben jedes Enklavenbewohners geworden”, schreibt Suljagić und schildert die kargen Mahlzeiten, wenn man sie denn überhaupt so schimpfen darf, „einmal, selten zweimal am Tag”. Die Reaktion der lokalen Bauern, welche als Einzige eher wenige Probleme mit der Nahrungsversorgung hatten? Sie nutzten die Not der Menschen aus, die bereit waren ihr letztes Hemd für etwas Nahrung wegzugeben, „um daran zu verdienen”.

Dies ist dann auch die große Stärke von Emir Suljagićs Bericht. Es gibt keine Helden, weder die bombardierenden Serben, noch die Blauhelme und nicht einmal die Bewohner Srebrenicas. So macht er keinen Hehl daraus, dass „einige Menschen, die [s]ein Leben verteidigten, mit ihren Taten gegen das Gesetz und die üblichen Normen verstoßen haben”. Im gleichen Tonfall denunziert er nicht nur die Massaker der bosnisch-serbischen Armee oder auch die totale Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, sondern auch die Verbrechen der ausgehungerten Bevölkerung Srebrenicas. In einem unscheinbaren Satz erwähnt er so zum Beispiel ihre Reaktion auf einen vorläufigen Sieg der Lokalen gegen die Serben während der Kämpfe zwischen Dezember 1992 und Februar 1993:

„Die Nachricht von einem Massaker an der Zivilbevölkerung hörten wir voll Schadenfreude”

Mit jeder weiteren Seite scheint sich die Lage nur zu verschlimmern. Suljagić beschreibt eine desinteressierte öffentliche Gemeinschaft, einen immer herzloseren Krieg sowie ausländische Soldaten die einen gnadenlosen Zigarettenhandel betreiben und die Not der Bevölkerung sogar für Prostitution ausnutzen. Über diese schreibt Emir Suljagić den meiner Meinung nach gewichtigsten Satz im ganzen Buch:

„Die Frau hatte keine Wahl, doch die Soldaten, die sie grausam ausnutzten, grausam, wie es nur der Krieg diktieren kann, hatten eine. Aber wie immer während dieser Jahre in Srebrenica trafen sie die falsche Wahl.”

Vergessen wir nicht, dass dies nicht bosnisch-serbische Soldaten unter Ratko Mladić waren. Die hier beschriebenen Tiere gehören zu unserer Herde, es waren Kanadier und Holländer. Nicht nur haben wir die Bevölkerung Srebrenicas, und wenn wir einmal wirklich ehrlich sind die Bevölkerung des gesamten Balkans, ihrem grausigen Schicksal überlassen, nein, wir waren sogar aktiv an dieser Exekution des Wertwesens Mensch beteiligt. Selbst am Massaker im Juli 1995 tragen wir eine nicht unerhebliche Mitschuld. Emir Suljagić selbst wurde Zeuge „eine[r] kalte[n], fast bürokratische[n] Gleichgültigkeit, ein[es] Verrat[es], begegangen von gebildeten, nach allen Standards intelligenten Menschen”. Bewusst überließ man die muslimischen Männer ihrem Tod. 239 Männer waren in der Obhut der holländischen UN-Soldaten. 239 Männer lieferte man ohne jeden Protest an Ratko Mladić aus. 239 Männer wurden erschossen. Insgesamt kamen fast 8000 Muslime bei dieser „ethnischen Säuberung” ums Leben. Es gibt keine Entschuldigung für dieses Verbrechen.

Emir Suljagić hat uns ein Werk von unschätzbarem historischen Wert überlassen. Nichts anderes als die Wahrheit schreit uns mit jedem Druckbuchstaben entgegen. Eine Wahrheit, die uns fast sämtliche Facetten der menschlichen Abgründe offen legt. Muss man die Geschichte der Separationskriege auf dem Balkan kennen um das Buch zu verstehen? Unweigerlich spielen die Ereignisse während des blutigen Zerfalls von Titos Jugoslawien eine wichtige Rolle, doch das von Suljagić beschriebene Leid überwindet selbst historische Barrieren. Wer sich dennoch informieren möchte, dem empfehle ich diese 6-teilige Dokumentationsreihe. Am Ende dieses Artikels spreche ich diesmal keine Lesempfehlung aus. Die Lektüre dieses Buchs ist Pflicht.

Emir Suljagić

Srebrenica – Notizen aus der Hölle

ISBN: 978-3552054479

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