Synästhesie des Nichtgelebten #2

Diese Woche veröffentliche ich den zweiten Teils meines Prosatextes.

In jenem Augenblick sah er, wie ein Mann sich auf ihn zubewegte. Ein vages Gefühl des Wiedererkennens stieg in ihm auf und das Gesicht des Mannes löste eine seltsame Vertrautheit in ihm aus, doch er konnte sich nicht entsinnen ihm bereits begegnet zu sein. Seine Bewegungen waren bedacht, ohne Eile, als ob er sich außerhalb der Gesetze der Zeit bewegen würde und diese somit auch nicht zu fürchten bräuchte. Der Mann kam näher und auf seinem Gesicht breitete sich ein freundliches Lächeln aus. Als er ihm zum Gruß die Hand hinhielt, ergriff er sie. Selbst der Händedruck des Mannes war ihm vertraut, doch immer noch konnte er ihn nicht mit einer spezifischen Begebenheit in Verbindung bringen.

„Darf ich fragen, mit wem ich die Ehre habe?“, brachte er schließlich hervor. „Ich bin nur ein Wanderer, der sich von seinen Füßen in dieser schönen Gegend herumtragen lässt“, antwortete der Mann fröhlich. „Schönheit? Ich weiß ja nicht, welche Schönheit Sie in dieser grauen Wüste entdecken wollen, aber meinen Augen entzieht sie sich offenbar.“, antwortete er entgeistert. Da schlich sich ein seltsamer Ausdruck in die Augen des Mannes und er sah ihn nachdenklich an. „Ich möchte dir etwas zeigen.“, sagte er schließlich bedächtig.

Ihm drängte sich die Frage auf, was sich in dieser Einöde denn schon an Vorzeigbarem befinden konnte, doch er folgte dem Mann, nun sicherer denn je, dass er ihm schon einmal begegnet war, da dieser ihn einfach ungefragt geduzt hatte. Doch obwohl selbst sein Gang ihm vertraut erschien, rief sein Anblick keine spezifische Erinnerung in ihm hervor, so sehr er sich auch das Hirn zermarterte. Doch etwas glaubte er mit Sicherheit sagen zu können: Entweder war dieser Mann ein hoffnungsloser Optimist oder er hatte es mit einem Verrückten zu tun. Diese nihilistische Verneinung des Lebens in Schönheit kleiden zu wollen, war eine einzige ästhetische Verspottung. Nichtsdestotrotz folgte er ihm, denn nun war es sowieso einerlei und ein bisschen Neugierde verspürte er nun doch, denn an der fröhlichen Einstellung des Mannes schien nichts Gezwungenes zu sein, sondern sie erschien durchwegs natürlich. Vielleicht würde ihm sich ja der Grund dafür offenbaren und er würde ebenfalls lernen die Schönheit unter diesem grauen Schleier zu sehen. Er spürte wie die Hoffnung in ihm aufkeimte, vielleicht war es doch noch nicht zu spät! Während er so in seinen Gedanken umherschweifte, hatte der Mann ihn zu einem Hügel mit einem kleinen Häuschen geführt und er wunderte sich, warum ihm dies nicht schon vorher aufgefallen war.

Sie stiegen den Hügel hinauf und traten hinein. Seltsamerweise erwies sich dies als große Anstrengung, so als ob es der erste Hügel sei, den er in seinem Leben erkletterte. Die Hütte schmiegte sich äußerlich perfekt in die farblose Umgebung hinein, doch er war überrascht von dem farbenfrohen Kontrast, der sich ihm im Inneren darbot und der durch den tristen Makrokosmos in den dieser Mikrokosmos gehüllt war, noch unterstrichen wurde. In der Luft tummelte sich eine Vielzahl von Lichtstrahlen, die tausendfach von Spiegeln an den Wänden zurückgeworfen wurden und ein einziges Farbenkonzert in der Luft spielten. Fasziniert von dieser harmonischen Vielfalt versuchte er, die Noten dieses Konzertes auszumachen, doch es gelang ihm nicht. Sie rannen durch seine Finger und lösten sich auf, um sich im gleichen Augenblick als ein neuer flüchtiger Farbton unter das schillernde Spiel zu mischen, doch greifbar wurden sie nicht für ihn. Zu seiner Verwunderung tanzten die Lichtstrahlen jedoch für einige Sekunden in den Händen des Mannes, bevor sie sich verflüchtigten. Er schien einen natürlichen Teil dieses Konzertes zu bilden, er war der Dirigent.

In diesem Augenblick zog jedoch das Fenster, das sich am Ende des Raumes befand, seine Aufmerksamkeit auf sich. Er durchquerte den Raum, in der Hoffnung, vom erhöhten Standpunkt der Hütte aus vielleicht das Ende der Wüste ermessen zu können. Doch der Anblick, der sich ihm offenbarte, raubte ihm den Atem. Anstatt der erwarteten öden Landschaft bot sich ihm ein überaus lebendiges Schauspiel dar, das von den unterschiedlichsten Kulissen umrahmt war und an dem eine Vielzahl von Akteuren teilnahm. Die Bühnenbilder reichten von einem belebten öffentlichen Platz bis hin zu einer Landschaft, in der er nur eine einzige Silhouette auszumachen vermochte. Doch diese Szenen, so unterschiedlich ihre äußeren Begebenheiten auch zu sein schienen,  wiesen alle eine Gemeinsamkeit auf: Sie waren durchwebt von Fröhlichkeit, Gemeinsinn und Hingabe an das Leben. Ein Kunstwerk, das in sämtlichen Farben schillerte und das äußerliche Gegenstück bildete zu dem innerlichen Farbenspiel, das er soeben bewundert hatte. Nun wusste er, welches Schauspiel sich den Augen des Mannes geboten hatte. Doch warum war er blind dafür gewesen? Er versuchte seine Hand auszustrecken, doch er vermochte das Glas des Fensters nicht zu durchdringen, er konnte die Bühne nicht betreten und die Bilder vor seinen Augen blieben ein Spiel der Illusionen. „Du kannst nicht hineintauchen.“, vernahm er auf einmal eine Stimme neben sich. Ohne, dass er es gemerkt hatte, war der Mann neben ihn getreten und schaute wie er zum Fenster hinaus, jedoch verschwamm für ihn die Grenze zwischen Schauspiel und Realität, denn wie er nun langsam zu verstehen begann, wurde ihm das Theaterstück des Lebens dieses Mannes vorgeführt. „Es ist zu spät“, fuhr der Mann fort, „das was du siehst, hätte sich als Synästhesie gestalten können, doch nun ist es auf das Visuelle beschränkt und auch zu der Musik des Konzertes vermagst du nicht zu tanzen, da sich dir ein elementarer Aspekt und somit die Schönheit des Lebens entzogen haben: Das Leben ist ein Gesamtkunstwerk, das du nicht in Stunden, Minuten oder Sekunden unterteilen kannst. Doch du hast es vorgezogen, der Zeit hinterherzulaufen, aus Angst, etwas zu verpassen und somit hast du alles verpasst, was es wert ist, erlebt zu werden und nun als das Stück aufgeführt wird, dessen Zuschauer du bist, anstatt dich in der Rolle des Protagonisten zu befinden.“

Verdutzt wendete er den Blick vom Fenster ab und richtete ihn stattdessen auf den Mann, der mit jedem Wort seltsamer und gleichzeitig vertrauter auf ihn wirkte. Er wusste nun, dass er die Wahrheit sprach, doch woher kannte dieser Mensch sein Innerstes so genau? Wie konnte dieser Fremde mit klarerem Blick in ihn hineinsehen, als er es selbst lange vermocht hatte? „Wer bist du?“, fragte er schließlich noch einmal, vergaß dieses Mal jedoch vor lauter Verwunderung, Wert auf seine Höflichkeit und seine Rhetorik zu legen. Der Mann antwortete nicht, sondern führte ihn vor das Orchester der Spiegel und bedeutete ihm, hineinzusehen. Anstatt des erwarteten Fremden blickte ihn seine eigene Silhouette aus dem Spiegel an, jedoch in doppelter Ausführung. Der Mann neben ihm war er selbst, er bildete den Teil von ihm, den er auf die Bühne der Illusionen verbannt hatte.

In diesem Augenblick legte sich von hinten eine Hand auf seine Schulter. Erschrocken fuhr er herum und blickte in das Gesicht eines fremden Mannes, der eine Wärteruniform trug und in freundlichem Ton sagte: „Es tut mir leid, mein Herr, aber das Spiegelkabinett schließt nun seine Türen, sie können gerne morgen wiederkommen, wenn sie möchten.“

 

Copyright 2016 Sophie Aduial

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